Wer zeigt das schönste Herz? Dieser Tage kann man beim Streifzug durch die Stadt so allerhand zwischen Mitgefühl und Meine-Güte erleben. Thilo macht mit den Fingern ein Herz. Mik hat sich wie ein Bettler auf die Straße gesetzt und aufs Schild geschrieben: „Ich brauche kein Geld, aber ein Lächeln oder eine Umarmung.“ Melanie hat Cent-Münzen in Herzform auf den Gehweg  gelegt.

Und alle haben die Bilder davon bei Facebook gepostet, auf dass sie viele Nachahmer finden.

Liebe to go. Herzenswärme zum Mitnehmen. Thilo, Mik und  Melanie  machen mit bei der Aktion Offensive Liebe, die sich junge Stuttgarter von Technokultur für die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr ausgedacht haben. Im Aufruf mit  bisher  über 7500 Unterstützern schreiben sie  ans Gute glaubend:  „Bringt gemeinsam Liebe auf die Straßen! Wir wollen die Welt ein  bisschen schöner machen und euch die Liebe ein bisschen näher in den Alltag bringen.“

Liebe  Blogbesucher, sagt jetzt bloß nicht,  dass solche Aktionen naiv seien, infantil oder so was. Schon John Lennon hat sich 1969 mit  Yoko Ono ins Bett gelegt, um für den Weltfrieden zu kuscheln.  Später, als der Beatle  längst tot war, wurde seine Witwe gefragt, was sie ohne ihren Partner so viele Jahrzehnte lang gemacht habe. „I was busy with love“, lautete ihre Antwort. Sie war beschäftigt mit Liebe. Und womit beschäftigt ihr euch?  Überlegen wir gemeinsam, wo wir ein bisschen Herz außer der Reihe zeigen können.

Offensive  Liebe – schon im Auto fängt es an. Auf der Fahrt zum Kaffeetrinken mit einem Freund spricht  jene Radiofrau zu mir, die ich mit ihrer Geschwätzigkeit sonst nie ertrage. Sobald ich ihre Stimme bei SWR 1 höre, schalte ich weg. Heute aber bin ich gnädig und lasse sie gewähren, um zu erkennen, dass sie noch  schlechter ist als ich dachte. Aber heute stört mich das nicht. War ich  bisher  etwa herzlos? 

Im Café   erkläre ich dem Freund, dass wir beide an diesem Nachmittag die  Welt ein klein bisschen verbessern,  indem wir ein klein bisschen Liebe dem Alltag näher  bringen. Die nach Weihnachten in Stuttgart gestartete Offensive  brauche jeden. „Was sollten wir deiner Meinung nach tun?“, fragt der Freund. „Ganz einfach, du wirst die nächste Person, die hier reinkommt, umarmen und küssen“, sage ich. „Und wenn es nicht Mila Kunis ist?“, fragt er.

Nein, es ist nicht die Most Sexiest Woman alive, die das  Lokal betritt. Es ist ein Mittfünfziger, den ich noch nie gesehen habe. Mein Kumpel, der alle kennt, kennt ihn   auch. Statt ihn zu herzen, schaut er weg.  Es nützt nix. Der Mann, ein Lehrer, wie ich nun erfahre,  kommt auf uns zu, und schon fängt er an zu lamentieren. Im Stuttgarter Bauwahn, schimpft er, würden die schönsten Häuser abgerissen,  und man knalle überall nur kalte, seelenlose Betonklötze hin.  Der Mittfünfziger wird immer lauter, immer wütender. Und mein Freund wird  bärbeißig und kalt, als habe er ein  Herz aus Beton.

Als der Lehrer endlich weg ist, frage ich den Freund, warum er so unfreundlich zu ihm gewesen sei. Habe er etwa die Offensive Liebe vergessen?  „Aber nein, ich habe mich an den Plan gehalten“, antwortet mein Kumpel.  „Man kann ihm nichts Besseres tun, als dass man ihn zu Wutausbrüchen führt.“ Sich über alles aufzuregen sei sein größtes Glück.  

Sei so lieb und spende Hass.

Und während ich die Herz-Kolumne am Laptop schreibe, der voller Herzen ist, wenn man nur richtig klickt (siehe Foto unten), erreicht mich ein Bild von Manuel Kloker. Der Manuel ist Designer, hat meine Webseite gemacht und gehört zum Team des Stuttgart-Albums. Seine Katzen hat er  beim Kuscheln mit dem Handy fotografiert – was für ein wunderschönes Herz!   

Offensive Liebe. Daheim  fällt mir noch was ein, was ich nicht  mit Fotos  posten kann. Durchs Küchenfenster sehe ich eine ältere Nachbarin. Ich  eile auf die Straße . Seit Jahren läuft sie immer zur gleichen Zeit am Haus vorbei – früher mit ihrem Hund, doch der ist  tot. Wurststückchen hat sie noch immer in der Tasche und ist damit die Heldin aller Hunde des Viertels.  An diesem Tag spreche ich mit der alten Dame ein wenig länger als sonst. Es war Weihnachten,  sie lebt allein, von Angehörigen weiß keiner was.  Und ich gebe ihr das, was ich ihr schon lange geben wollte: Meine Handynummer. Wenn sie mal Hilfe brauche, einen Mann, der Getränke schleppt, einen Gartenzwerg oder was auch immer, könne sie mich jederzeit anrufen. Was hat sie gelächelt! Mit diesem Lächeln hätte sie jeden Schick-ein-bisschen-Liebe-in-den-Alltag-Wettbewerb gewonnen. Doch das kleine Glück  ist  keine Casting-Show. Man sollte es nicht ausstellen, es  genügt sich selbst. 

Das alte Jahr ist bald vorbei. Für 2013  sind die besten Vorsätze die, bei denen es nicht nur um uns selbst geht. Wer lange nach Weihnachten noch an die Hilfsorganisationen seines Vertrauens spendet, darf meinetwegen mit dem Rauchen anfangen. Rutscht gut rein –  herzensgut! 

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