Gewissensbisse, Schuldgefühle, Skrupel: Wer die Moral hat, hat die Qual. Das SWR-Fernsehen testet im Stuttgarter Jazzclub Bix eine neue Talkshow. Was geht heute noch?
Darf ich als Mann, wenn’s keiner sieht, auf einem Frauenparkplatz parken? Geht es in Ordnung, wenn ich mir die Backen vollstopfe, während die „Tagesschau“ über Hunger in Afrika berichtet? Ist der Erwerb eines Hähnchens für 3,50 Euro moralisch verwerflich? Aus artgerechter Haltung stammt es bestimmt nicht.
Die Welt ist voller Gewissensfragen. Im Kleinen fängt es an. Und es geht hoch hinauf bis zu grundsätzlichen Unklarheiten des Universums.
Darf ein Arzt durch Gendiagnostik Eltern zu gesunden Kindern verhelfen? Ist es nicht verdammenswert, Kondome zu verbieten, obwohl Menschen bei Ansteckung an Aids sterben können? Sind Vegetarier die besseren Menschen?
Früher haben die Menschen in der Bibel nachgeschaut, um zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Aber spätestens seit Immanuel Kant und der Aufklärung wird das vermeintliche Wort Gottes hinterfragt. Mit Hilfe ihres Verstandes wollen viele die schwierigen Fragen selbst lösen.
Was ist falsch, was ist richtig? Zweifler können nun Orientierung im Fernsehen suchen. Die Flut der Talksendungen nervt zwar – doch der SWR will was völlig Neues testen, das vielversprechend klingt. Drei Experten werden Zuschauerfragen zu moralisch strittigen Themen diskutieren – sie sollen Sinn, Werte und Glauben vermitteln. Wunschkandidat des SWR fürs Expertenteam ist der Philosoph und Bestsellerautor Richard David Precht. Als Kulisse dient der Jazzclub Bix (dass aus den ersten Plänen, mit der neuen Sendung auf den Fernsehturm zu gehen, nichts wurde, lag nicht am Brandschutz, sondern am fehlenden Platz für ein 100-köpfiges Publikum). Am 29. April, 20 Uhr, zeichnet der Sender den Piloten unter dem Titel „Die Moralapostel“ auf. Zu sehen ist die Sendung am Pfingstsonntag, 10.30 Uhr. Bei Erfolg will der SWR damit ins Abendprogramm.
Radio goes TV: Stefan Siller („SWR 1 Leute“), der mit seiner hintergründigen und unterhaltsamen Art des Fragens ein Meister seines Fachs ist, moderiert die Bix-Runde. Wenn’s gut läuft, winkt dem 63-Jährigen (auf dem Foto rechts mit Mathias Richling) eine späte Fernsehkarriere. Dies ist moralisch keineswegs zu beanstanden: Hüter eines fairen Miteinanders können den Jugendwahn der Sender nicht unkritisch durchwinken.
Ist die Moral beim Teufel? Oder sind viele, die sie hochhalten, scheinheilig?
Im Alltag treffen wir auf politisch Überkorrekte und Besserwisser – beliebt sind die nicht. „Ich scheiß auf Gutmenschen und Moralapostel“, lautet die Aufschrift eines T-Shirts. Andererseits: Jeder, der den Verfall der Sitten mit Blick auf Politintrigen und zockende Banker anprangert, erntet Beifall. Von Edith Piaf ist folgender Spruch überliefert: „Moral ist, wenn man so lebt, dass es keinen Spaß macht.“
Den Moralaposteln im Bix drück ich die Daumen und wünsche Marktanteile wie bei der neuen Serie „Die Kirche bleibt im Dorf“ (die waren mit 17,9 Prozent sensationell).. Denn eines gilt in heutiger Zeit, davon wusste Brecht noch nix: Erst kommt das Quotenmessen, dann die Moral.