Schon wieder eine Buchhandlung weniger! In dem Dorf, in dem ich wohne, das nicht weit von einer Großstadt entfernt ist, die manche für ein großes Dorf halten (wir sind also dicht dran an Stuttgart), steht ein Laden leer und wartet auf neue Mieter. Hier hat – gegenüber der Dorfkirche – eine kompetente Buchhändlerin endgültig dichtgemacht. Ein weiteres Opfer von Amazon? Immer weniger Orte zum Blättern und Schnuppern in Buchseiten bleiben. Im Internet riecht man nichts und redet wenig. Mit meiner Friseurin, die neben der früheren Buchhandlung praktiziert, pflege ich den Mensch-zu-Mensch-Kontakt. Kürzlich war ich wieder dort. Wir besprachen die ernste Lage, die sich für viele Ladenbesitzer in Zeiten des Online-Shoppens ergibt. Plötzlich stellte sie erfreut fest, mit dem Bestatter des Dorfes was gemeinsam zu haben: „Sterben und Haare schneiden kann man noch nicht im Internet.“
Aber sonst kann man fast alles im Netz. Es gibt sogar immer mehr Menschen, die ihr Leben dem Internet verdanken – weil sich Mama und Papa online kennen gelernt haben. Und wenn Papa nach einer gewissen Zeit mal ein bisschen Abwechslung von Mama haben will, geht er wieder ins Netz, um alles daranzusetzen, mit der Unbekannten, mit der es nicht beim Chatten bleiben soll, niemals Kinder in die Welt zu setzen. Womit wir beim Fremdgehen wären.
Wenn es stimmt, was einschlägige Webseiten behaupten, die „stilvolle Erotik“ versprechen oder „gelebte Fantasie“, ist Stuttgart bei Auswärtsspielen führend. Eine Seitensprung-Agentur behauptet, momentan würde es in Stuttgart 52.150 Männer geben, die fremdgehen würden, wenn sie könnten, also die Gelegenheit hätten. Ist vielleicht ein bisschen viel Konjunktiv in nur einem Satz, aber bis zum Tunwort ist es oft nicht weit. Man tut’s bevorzugt im Hotel. In einer Pressemitteilung hat eines dieser Portale die „beliebtesten Hotels für Fremdgeher in Stuttgart“ aufgelistet. Demnach steht das Azenberg auf Platz eins.
Als ich dort anrufe, um zum Sieg zu gratulieren, weiß die nette Dame der Rezeption nicht, ob sie geschmeichelt oder verärgert sein soll. „Wir wurden nicht gefragt, ob wir in dieser Hitliste genannt werden wollen“, sagt sie. So diskret ist das Portal. Laut der besagten Erhebung verschwindet die Mehrzahl der Fremdgeher noch vorm Frühstück. Nur ein Drittel bleibe die ganze Nacht. „Unser Hotel kann nicht stundenweise gebucht werden“, stellt die Azenberg-Sprecherin klar. Aber man wisse nicht, wer – obwohl die ganze Nacht bezahlt wird – nach wenigen Stunden in Richtung Ehebett verschwindet. Pssst! Ist ein offenes Geheimnis: Besonders City-Hotels haben Männer und Frauen zu Gast, die verheiratet sind, nur nicht miteinander. „Sollen wir uns den Eheausweis zeigen lassen?“, fragt die Hotel-Sprecherin. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Wir befinden uns in modernen Zeiten, in denen auf der Azenberg-Webseite steht: „Ihr Hotel zum Entspannen!“
Was die Fremdgeh-Börsen mit ihren Statistiken bezwecken, die keiner überprüfen kann, ist klar. Sie wollen uns verklickern, dass der Großstadt-Mensch ohne Affäre arm ist. Mit ihr wird er freilich noch ärmer – sein Geld soll er bei der Suche nach Außer-der-Reihe-Sex an die Online-Portale abdrücken. Auf diesen Webseiten findet man übrigens Tipps, wie man erkennt, ob der Partner fremdgeht. Wer sein Handy daheim rumliegen lasse, sei garantiert treu. Verdächtig aber müsse es sein, „wenn der Partner grundlos glücklich ist“, steht da.
Das ist hart! Niemals dürfen wir den Anschein erwecken, einfach so glücklich zu sein – selbst wenn wir es mit unserem Partner sind! Es könnte falscher Verdacht aufkeimen. Stinkstiefelig müssen wir unser häusliches Dasein gestalten, bis der Partner genug von uns hat und in einen Seitensprung flüchtet. Nichts anderes bezwecken die Agenturen. Die Vermehrung der Untreue ist ihr Geschäftssinn. Schon Oscar Wilde sagte: „Nur der Treulose kennt die Tragödien der Liebe.“ Das nächste Buch eines Dichters wie Wilde kaufen wir nicht im Internet, sondern in einer Buchhandlung. Der zumindest sollten wir treu sein!