Wenn Herr Schmidt wüsste, wie schwer es war, ihm eine kleine Freude zu machen. Seit Ewigkeiten, klagte Herr Schmidt kürzlich in seiner Radiosendung bei SWR 1, habe er keine Ansichtskarte mehr erhalten. Da er kein Smartphone besitze und sich in keinem „sozialen Spinnennetz“ tummle, sei er abgeschnitten von den Lebenszeichen seiner Mitmenschen. Für einen Mann dieser Generation (Jahrgang 1957) dürfte so was in der Ferienzeit nur schwer zu ertragen sein. Je mehr Ansichtskarten früher kamen, desto beliebter war man. Und heute? Nix kommt.
Der Moderator Thomas Schmidt leistete also Selbsthilfe und startete die Aktion „Rettet die Ansichtskarte“. Seine Bitte an die Hörerschaft: Man möge ihm Ansichtskarten schicken, auf dass die schon vor Jahrhunderten erfundene Korrespondenz nicht endgültig ausstirbt. Natürlich wollte auch ich Herrn Schmidt helfen, obwohl ich noch nie ein Fan des Ansichtskartenschreibens war. Mein Beruf war schon immer gut für eine Ausrede. Weil ich als Journalist das ganze Jahr über schreiben müsse, wollte ich es nicht auch noch in der Freizeit tun. Doch nun war ich gefordert.
„Lieber Herr Schmidt“, so begann ich meine erste Ansichtskarte seit Jahren. Und weiter fiel mir nix ein. Laut unnützem Wissen geht es in den Ansichtskarten der Deutschen meist um das Wetter und um das Essen. Also fuhr ich fort: „Das Wetter war gut, die Stadionwurst auch.“
Dem lieben Herrn Schmidt wollte ich Grüße schicken von meinem Sonntagsausflug nach Bad Cannstatt. Die Hacken lief ich mir in der Mercedes-Benz-Arena ab, um eine Ansichtskarte zu finden. Es gab unzählige Verkaufsstände – keiner hatte Karten. Erst am nächsten Tag wurde ich in Degerloch fündig. Auf meiner Karte befindet sich ein schönes Bild vom Stadion. Die Grüße werden noch ein Weilchen brauchen, bis sie Herrn Schmidt erreichen. So ist das, wenn man alte Kommunikationswege wählt. Im Stadion hatte jeder Zweite sein Smartphone in Betrieb. Von Konzerten bekommt man heutzutage höchstens die Hälfte mit, weil man gleichzeitig posten, kommentieren und fotografieren muss. Am Sonntag hatten Tausende dieses Zitat von Robbie Fucking Williams schneller in die Welt geschickt, als es dieser selbst aussprechen konnte: „For the next two hours your ass is mine.“ Einer ist immer der Arsch. Herr Schmidt muss Tage warten, um dies zu erfahren.
Mit gutem Wetter und Essen hatte ich meine erste Ansichtskarte seit Jahren begonnen. Jetzt folgte was Kritisches: „Allerdings gibt es für 45 000 nur ein Bett. Das steht auf der Bühne. Der übergewichtige Brite hat es sich mit einer Österreicherin aus dem Publikum geteilt.“ Ich schloss mit der Frage: „Wo bin ich?“
Ja, wo sind wir denn? Wird die Welt ein bisschen besser, wenn wir die Ansichtskarte retten? Und ist die Welt im Ganzen überhaupt zu retten? Tim Bendzko hat es versucht. „Muss nur noch kurz Welt retten“, hat er gesungen, „danach flieg ic h zu dir.“ Übrigens musste er beim Weltretten auch noch 148 Mails checken – vom Checken von Ansichtskarten war keine Rede.
Man kommt gar nicht nach mit dem Retten. So vieles ist vom Aussterben bedroht. Wo früher ein Wecker zum Aufziehen stand, liegt nun das Handy mit Weckfunktion. Der Brockhaus zum Blättern ist ein Fall für den Artenschutz. Einst konnte man Erinnerungen in Händen halten, die Urlaubsfotos auf Papier. Heute hat man einen winzigen Chip. Dem Ende nah sollen zudem sein: gute Manieren, die FDP, die Ozonschicht der Erde, ein funktionierender Bahnverkehr. Und da wollen Sie, lieber Herr Schmidt, ausgerechnet die Ansichtskarte retten? Gibt es nichts Wichtigeres?
Aber Sie haben recht, man sollte mit kleinen Schritten beginnen. Deshalb ist meine Karte an Sie unterwegs. Wenn die nicht ankommt, schicken wir der Post ’ne Rettungsstaffel. Und dann endlich überlegen wir uns, ob wir selbst noch zu retten sind.