Das Leben ist nicht darauf angelegt, dass es für alle Menschen immer rund läuft. Oft werden wir ausgebremst, was uns die Chance gibt, Gelassenheit zu trainieren. Es sind die kleinen Prüfungen des Alltags, an denen wir wachsen.
Da wollte ich nur schnell noch im Supermarkt die vergessenen Zwiebeln kaufen, schon war ich vor der Kasse in einer Schlange gefangen, die eine ältere Dame blockierte. Sie hatte sich vorgenommen, die verlangten 6,46 Euro nur mit Ein- oder Zwei-Cent-Münzen zu bezahlen. Die Kassiererin und die ältere Kundin murmelten beim Hin- und Herschieben von Kleingeld unverständliche Beträge.
Hinter mir wurde das nervöse Hüsteln heftiger. Derweil führte ein turtelndes Teenie-Pärchen vor, dass es im Leben noch was Schöneres als Ausgebremstsein gibt. Der Junge griff nach einer weißen Schachtel, die direkt vor der Kasse in Augenhöhe zwischen Fisherman’s Friend und Jägermeister stand. „Fast vergessen“, sagte er lauter als notwendig. Mit seiner Freundin besprach er die Aufschrift der Packung, die „länger anhaltendes Vergnügen“ in Aussicht stellt. Uns war es früher peinlich, beim Kondomkauf ertappt zu werden – die beiden Teenies gingen so auffällig vor, dass wir die alte Lady mit den Münzen fast vergessen hätten.
Doch auf einmal waren die umständlich zahlende Dame und die Kondomkonsumenten nebensächlich. Denn da, ja, war er aufs Förderband gehüpft. Der Schokoladen-Weihnachtsmann. Endlich!
Endlich sah ich einen. So einen Mensch, der Weihnachtsmänner im Oktober isst. Das ist einer! Die Sonderregale mit der Weihnachtsware verbauen schon seit September einen zentralen Weg in meinem Supermarkt. Nie hatte ich jemanden gesehen, der sich dort bedient. Nun war in meiner Schlange vor der Kasse ein Mann erschienen, der es nicht abwarten kann.
Menschen, die im Oktober Schokoladen-Weihnachtsmänner essen, tun das, was sie wollen. Sie scheren sich nicht um den Rhythmus des Jahres und um die Kritik der Kirchen, die dazu aufrufen, den Advent im Dezember zu lassen. Alles hat seine Zeit. Doch es gibt Menschen, die sich über die Zeit erheben.
Menschen, die im Oktober Schokoladen-Weihnachtsmänner essen, sind mir nicht geheuer. So früh schmeckt der Schmelz der Mützenträger am besten, werden diese Menschen sagen, dann ist er noch frisch. Warum singen sie jetzt noch keine Weihnachtslieder? So früh klingen die nicht ausgeleiert. Wenn immer nur Frühling wäre, würde es keinen Sommer und keine Ernte geben. Was passiert, wenn immer Weihnachten ist?
Menschen, die im Oktober Schokoladen-Weihnachtsmänner essen, sind schlechte Vorbilder für Kinder. Schon sah ein Mädchen, was da im Glitzerpapier auf dem Förderband lag. Es wollte auch so einen roten Kinderliebling mit Glöckchen. Die Mutter winkte ab. „Wenn du jetzt schon den Weihnachtsmann isst“, sagte sie, „ist er weg und kann dir an Weihnachten nichts mehr schenken.“
Sollte man den Verkauf von Weihnachtsware einschränken wie den Verkauf von Böllern vor Silvester? Wenn du ausgebremst wirst im Leben, sei es nur in einer Schlange vor der Kasse, denkst du über Grundsätzliches nach. Die alte Dame hatte soeben die letzte Münze gefunden. Es ging wieder voran. Und vorbei war’s mit dem Vergnügen von länger anhaltenden Gedanken.
