Er gilt als tragisches Paradebeispiel dafür, wie schmal der Grat zwischen Genie und Wahnsinn sein kann. Der 1751 geborene Dichter Jakob Lenz litt an Psychosen, Depressionen, irrte umher und war mit 41 Jahren schon tot.
Keinen Verrückten schickt die Theaterregisseurin Andrea Breth in ihrer bejubelten Inszenierung noch bis zum 15. Dezember auf die Bühne des Stuttgarter Opernhauses, sondern einen tieftraurigen Ausnahme-Poeten, der zu genial war für den schnellen Untergang und zu wahnsinnig für das Glück.
Wie wahnsinnig, fragt sich manch ein Besucher von Wolfgang Rihms „Jakob Lenz“ in einem „einfach perfekten Opernabend“ (Deutschlandfunk), muss der Mann sein, der ihn darstellt, dass er sich aus zehn Meter Höhe kopfüber auf den harten Bühnenboden stürzt?
Nach dem Knall auf dem Boden bleibt er wie tot liegen – jener Lenz, dem literarische Werke gelangen, der aber den Suizid nicht auf Anhieb hinbekam. Den Bärtigen mit der blassen Haut gibt es in dieser Inszenierung zweimal. Der Bariton Georg Nigl, Darsteller der Titelrolle, hat einen zweiten Lenz an seiner Seite, der immer dann den Kopf hinhält, wenn es gefährlich wird. „Stuntman“, sagt man beim Film. In der Oper heißt es „Double“. Der Stuttgarter Artist Martin Bukovsek ( Foto) mit dem Künstlernamen Carismo hat diese Aufgabe übernommen.
Die Hälfte der Vorstellung ist Martin auf der Bühne, von der Maske so perfekt geschminkt, dass er Nigl zum Verwechseln ähnlich sieht. Wenn Carismo hört, dass Zuschauer gar nicht bemerkt haben, dass der Hauptdarsteller gedoubelt wird, freut ihn das. Dann habe er keinen so schlechten Job gemacht. Hart ist der Job allemal. Denn er stürzt in der ersten Szene ohne Netz und doppelten Boden vom Bühnenhimmel herab. Wie er das macht?
„Es ist die Kunst des Fallens und Abrollens“, sagt er mir. Als Tuchartist hat er gelernt, wie man landen muss, ohne sich zu verletzten. Niemals mit den Füßen zuerst! Sonst würden die Knochen brechen. Mit den Händen muss er sich am Ende des freien Falls abstützen. Es kommen noch weitere Szenen, in denen er gefordert ist.
Martin Bukovsek tut es gern. Den Teamgeist des Ensembles lobt er in den höchsten Tönen und die Perfektion der Regisseurin. In den sechs Wochen der Proben hat er viel über Jakob Lenz erfahren, über dessen Ängste und Ekstasen – und auch einiges über sich selbst. Kürzlich kamen zwei seiner Freunde in die Vorstellung, die selten in die Oper gehen und die ein tristes Stück erwartet hatten. Danach hätten sie von einer „hypnotischen Stimmung“ im Publikum berichtet.
Der doppelte Lenz dieser Inszenierung ist sehr ergreifend plus den sechs Vokalsolisten, die als seine innere Stimmen auf der Bühne agieren. Wenn der Sinn des Lebens abhanden kommt – hilft da nur noch der Wahnsinn?