Im Oktober erscheint der Bildband „Stuttgarter Charakterköpfe“ im Silberburg-Verlag mit Fotos von Wilhelm Betz und Texten von Uwe Bogen. Auf dem Titel ist der große Tänzer Egon Madsen zu sehen, der in den 1960ern unter John Cranko als Solist zum Stuttgarter Ballettwunder beigetragen hat. Der Fotograf Wilhelm Betz bildet die Vielfalt, also die Buntheit der Stuttgarter Männerwelt, in Schwarzweiß ab – als Kontrast zur Bilderflut, die uns in den sozialen Netzwerken überschwemmt.
Seine Fotos sind reduziert auf das Wesentliche. Die von ihm ausgewählten Männer sitzen in dunkler Kleidung vor dunklem Hintergrund (mit einer Ausnahme: der Koch Vincent Klink trägt nicht Schwarz, er wollte sich in seiner weißen Arbeitskleidung fotografieren lassen). Das Licht sorgt für harte Kontraste.
Provokante Erkenntnisse über den Charakter Stuttgarts
Im Textteil beschreiben die Porträtierten mit provokanten, herzlichen, witzigen und originellen Erkenntnissen den Charakter Stuttgarts und sagen, was sie sich für die Stadt wünschen. Die Liebe für Stuttgart ist stark – aber auch der Ärger, weil vieles diese Liebe gefährdet. Stuttgarts Charakter, sagen die Charakterköpfe, darf nicht im Bauwahn zerstört werden und der Abrissbirne zum Opfer fallen. Das kulturelle Erbe muss besser geschützt werden.
Für mich begann das Buchprojekt mit einer Mail – mit der höflichen Anfrage eines Studenten für Foto-Design. Ob ich bereit sei, so wollte der Student wissen, mich von ihm als „Stuttgarter Charakterkopf“ fotografieren zu lassen. Im Anschluss werde er mir ausgewählte Aufnahmen in Farbe und Schwarzweiß zur beliebigen Verwendung aushändigen.
Die jungen Leute muss man unterstützen, dachte ich, und ein neues Foto für meine Zeitungskolumne könnt‘ ich auch gut gebrauchen. Also erschien ich zum vereinbarten Termin im obersten Stock seiner Fotoakademie. Aus dem Atelier kam mir ein Mann entgegen, den ich für den Professor hielt. Doch wo war der Student? Der Student war er. Sein Studium hat er mit 60 Jahren angefangen.

Nach 40 Jahren bei der IBM, davon 25 Jahre im Vertrieb, hat Wilhelm Betz ein künstlerisches Leben begonnen und große Anerkennung damit erfahren. Es ist nie zu spät, etwas Neues anzufangen und verborgenen Talenten bei sich zu entdecken. Der Fotograf führt dies mit seiner künstlerischen Arbeit vor. Beeindruckend ist, mit welcher Intensität und Perfektion er es schafft, dass die Charakterköpfe so viel von sich preisgeben, also ihr wahres Gesicht zeigen, nicht nur ihre Smiley-Maske.
Gerüche zwischen Größenwahn und Selbstmitleid
Geld, so sagt man, verdirbt den Charakter. Ebenso dürfte stimmen, dass Charakter innere Festigkeit verlangt. . Der Charakter unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und muss doch standhaft sein, egal, an welchem Breitengrad zwischen Empathie und Selbstkontrolle man angekommen ist.
Dieses Buch ist kein Who is who von Stuttgart. Es ist kein Promi-Führer. Die Auswahl ist individuell getroffen, also von Wilhelm Betz. Er hat Stuttgarter angesprochen, von denen er meint, dass sie der Stadt Charakter geben oder sie vielleicht sogar mitprägen.
Die Köpfe zeigen nicht nur Gesicht, sondern sagen auch klipp und klar, was ihnen Stuttgart bedeutet, was in ihrer Heimat im Argen liegt, was sie begeistert und was anders werden sollte. Dafür habe ich alle 52 Charakterköpfe befragt. So ist das Buch doppelt spannend, weil es zu der herausragenden Fotoqualität auch ein Zeugnis dafür ist, wie die Stadt tickt.

Der Schriftsteller Heinrich Steinfest etwa vergleicht den Charakter Stuttgarts mit einem Topf, in dem eine Suppe vor sich hin köchelt. „Gerüche zwischen Größenwahn und Selbstmitleid“ nimmt er wahr – aber auch Gerüche, die er als „erregend lieblich“ bezeichnen mag. Der Koch Vincent Klink beklagt, was Investoren in Stuttgart anrichten. Tänzer Egon Madsen freut sich, dass Stuttgart „hyggelig und gemütlich“ ist, während Weinhändler Bernd Kreis „die Bittersüße der Stadt“ rühmt. “ Seine Wahlheimat Stuttgart erinnert Eric Gauthier, den Chef der Theaterhaus-Tanz-Compagnie, an Montreal in Kanada, wo er herkommt: „Beide Städte sind offen, tolerant und bunt.“ Der Fotograf Dietmar Henneka ärgert sich abends über das „Runterlassen der Rollläden in den Wohnquartieren. Rezzo Schlauch wünscht sich für Stuttgart „weniger geschleckte Einkaufszentren“. Der Wirt Obi Oberkamm würde am liebsten „das Loch 21“ zuschaufeln. „Stuttgarts Charakter“, klagt Stadtflaneur Joe Bauer, „wird aus Profitgründen zerstört.“ Und der Kabarettist Peter Grohmann wünscht sich für Stuttgart, „dass die Menschen hier endlich den Wert der Stadt erkennen und Stuttgart nicht unzumutbar wird“.
Aber wo sind die Frauen?. Haben Frauen keinen Charakter? Vielleicht hat das weniger mit Stärke und Geradlinigkeit zu tun, über die Frauen mindestens genauso verfügen, sondern eher mit Eitelkeit. Denn der Fotograf verwendet kein sanftes Licht, das beschönigt. Er zeigt, was Charakter ausmacht, also auch Furchen und Falten. So viel Realität mögen nicht alle Frauen. Sie wollen nicht jede Pore von sich großformatig sehen. Deshalb ist der erste Teil seines Fotoprojekts ein rein männlicher. Mit einer anderen Lichtführung ist Wilhelm Betz aber bereits dabei, auch die tollen Frauen von Stuttgart fotografisch zu würdigen.

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