Immer mehr „Orakel-Junkies“ gibt’s, habe ich gelesen, die was aus ihren Problemen machen. Mit dem Pendel oder in Karten suchen sie für alle Fragen ihres kleinen Lebens ’ne große Antwort, die mitunter gut, aber meist teuer ist. Damit helfen sie nicht nur ihrer eigenen Krise, sondern auch in der Wirtschaftskrise von uns allen, dass nicht sämtliche Branchen darniederliegen. Der esoterische Markt macht Millionenumsätze. Können Millionen irren? Nur ich bin so feige und regele meinen ganzen Mist allein. Kartenleger hielt ich für Seelenverkäufer, die mit Prognosen wie „Nächsten Monat scheint mindestens dreimal die Sonne“ oder „Du wirst bald mal schlechte Laune haben“ ihre Treffer landen, worauf die Kunden jubeln: „90 Prozent stimmt!“

Ich konnte ja nicht ahnen, was ich da versäume. Was Sylvie Kollin macht, eine der berühmtesten Wahrsagerinnen Deutschlands, ist Entertainment. Die 60-Jährige aus Hannover hat schon in die Karten von Uwe Ochsenknecht, Christian Wulff und Johannes B. Kerner (live bei ihm im Fernsehen) geschaut. Gerade residiert sie im Millennium-Hotel, um ihre Stuttgarter Fans zu bedienen (für 170 Euro pro Sitzung). In der Rezeption hat sie mich abgeholt. Mit roten Haaren und viel Temperament folgt sie dem Klischee. Während wir im Lift hochfahren, überlege ich, dass man sie im Mittelalter womöglich als Hexe verbrannt hätte. Erst lächele ich in mich hinein, erschrecke aber über mich selbst. Wenn die Dame Gedanken lesen kann! Weiß sie mehr über mich, als mir lieb ist? Weiß sie gar mehr, als ich selbst?

Frau Kollin will mein Geburtsdatum wissen, und ich muss Karten mischen. Während sie die Karten aufdeckt, behauptet sie, sympathisch plaudernd, ich sei ehrgeizig, zielstrebig, könne aber nicht loslassen. Zwei Karten haben es ihr angetan. Das Bild eines Mannes liegt direkt neben dem Bild einer Frau. Die beiden schauen sich an. Der Mann bin ich, erfahre ich. Doch wer ist die Frau? Die Wahrsagerin will wissen, wie lange ich verheiratet bin. Die Antwort überrascht sie. „So lange? Dann kann es nicht Ihre eigene Frau sein!“ Ein so inniges Verhältnis gebe es nach dieser Zeit nicht. Mein Herz gehöre schon jetzt oder bald einer Geliebten. Dann greift sie nach meiner Hand, lässt das Pendel schwingen und will’s kaum glauben. „Nein, das ist kein Seitensprung, sondern doch Ihre eigene Frau.“ Ich bin erleichtert. Wenn ich am Abend nach Hause komme und meine Frau wissen will, wie’s beim Kartenlegen war, muss ich nun doch nicht sagen: „Liebling, schön war’s, bald hab‘ ich ’ne andere.“

Beruflich könnte ich noch mehr aus mir machen, behauptet Frau Kollin. Doch in der Redaktion gäbe es einen Mann, der mich blockiert und an meinem Stuhl sägt. Wehe, ich erwische den Kerl! In der Konferenz schau‘ ich mir die Kollegen genau an. Tun alle so nett, doch in Wahrheit ist einer hinterhältig. Der Kollege, den ich verdächtige, streitet alles ab. Er denke nicht daran, meinen Job zu übernehmen, bei den vielen Abendterminen. Ich werde meinen Brutus schon noch entlarven. Denn am 21. März, auch das erfahre ich, beginnt meine Glücksphase. Und einen Rechtsstreit werde ich dieses Jahr gewinnen. Nicht nur mir, sondern allen Leser sagt die Kartenlegerin ein Sonnenjahr 2010 voraus, das von Optimismus geprägt sei. Angela Merkel gerate unter Druck, und Wolfgang Schuster werde 2012 nicht mehr bei der OB-Wahl antreten.

Nach etwa einer Stunde will mich Sylvie Kollin im Lift nach unten begleiten, findet aber ihren Suiteöffner nicht, der – bei einer Kartenlegerin kann es nichts anderes sein – eine Karte ist. Genervt läuft sie hin und her. Da stehe ich kurz mal auf und finde im Durcheinander die Hotelkarte auf Anhieb.

Habe ich etwa hellseherische Fähigkeiten? Also, liebe Frau Kollin, dann durchleuchte ich Sie mal! Sie sind gesellig, nicht so robust, wie Sie erscheinen, und träumen von einer TV-Sendung. Von meinem Artikel haben Sie sich mehr Werbung versprochen. Und wenn ich Sie hier jetzt beleidigt hätte, könnten Sie nicht mal was dagegen tun. Denn den Rechtsstreit gewinn‘ ich!

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