Allen Gerüchten zum Trotz: Das legendäre Café Weiß beim Hans-im-Glück-Brunnen soll nach der Modernisierung so weiterlaufen wie bisher. Vom Umgang mit der Zeit.
Was ist das? Man kann sie lesen, aber auch totschlagen. Man kann sie vertreiben, doch nie an die Kette legen. Man kann sie vergeuden. Und sogar gewinnen.
Ihr wisst, was gemeint ist? Die Zeit!
Die Zeit läuft! Kommt sie, kommt Rat. Die Zeit heilt Wunden, doch eine Schönheitschirurgin ist sie nicht. Mit der Zeit sehen wir alt aus. Meist behaupten wir, wir hätten keine. Und doch schauen so etwa acht Millionen von uns das Dschungelcamp – vergeuden wir sie damit? Oder sollten wir von Zeit zu Zeit dank der RTL-Show tief ins menschliche Wesen blicken, um besser zu verstehen, warum viele von uns nicht ganz richtig ticken? Warum der Geist der Zeit ziemlich crazy ist?
Für 48 Stunden war ja quasi Stuttgart im Gestrüpp von Australien dabei. Zwei Jahre lang lebte Helmut Berger in unserer Stadt bei Wirtin Laura Halding-Hoppenheit. Die nennt ihn seitdem nur noch „Horror“. Kalter Entzug in Gluthitze muss ja ein Horror sein. Er selbst, von Pillen ruhiggestellt, machte gar keinen. Dass der Nachrücker bereits hinterm Busch stand, hat nun auch die RTL-Moderatoren überzeugt, dass alles nur Beschiss ist. Sie machen sich lustig über die Tricks des eigenen Senders, das können sie. Man ist froh, dass Berger im Camp nicht das Zeitliche gesegnet hat und fragt sich: Wie würden heute James Dean und Marilyn Monroe aussehen?
Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt.
Zeitnah und Zeitfenster – zwei fürchterliche Wörter, die man früher nicht kannte. Nur wenige Orte gibt es in Stuttgart, in denen die Zeit stehengeblieben ist. Das Mineralbad Berg gehört dazu, aber auch das Café Weiß beim Hans-im-Glück-Brunnen. Die Einrichtung dieses Lokals hat sich in über 50 Jahren kaum verändert. Doch jetzt herrscht helle Aufregung bei den Freunden nostalgischer Wodka- und Schoko-Nächte. Am 25. März, so ist auf Plakaten zu lesen, steige die Abschiedsparty. Wirt Ranko, der nach dem Tod von Heinz Weiß weitergemacht hat, müsse raus, erzählt man sich. Kommt da eine weitere Schickibude rein? Was sagt der Besitzer Bernhard Weiß, der Sohn einer Legende, zu diesen Gerüchten? „Wir müssen einiges erneuern“, erklärt er mir am Telefon, „etwa Stromleitungen und die Toiletten, doch dann geht es im gewohnten Stil weiter.“ Das Café seines Vaters sei in dieser Stadt eine Institution, und so werde es bleiben. Wir atmen auf!
Schon immer war das Weiß ein Ort der Toleranz. Hier saßen auf der einen Seite Frauen, die sich von zahlenden Männern erholten, und auf der anderen Seite Männer, die auf Männer warteten. Das hat Kulturmenschen angezogen. Das Café wurde zum Lesesalon. Ausdauernd lasen Schauspieler aus einem der berühmtesten Werke der Weltliteratur – aus dem siebenteiligen, 4000-seitigen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, an dem Marcel Proust zehn Jahre gearbeitet hat. Die Lesereihe hieß „Na denn, Proust“. Es wäre vermessen zu behaupten, ich hätte das gesamte Werk gelesen. Aber wenn es stimmt, was ich darüber weiß, wollte Proust aufzeigen, wie unser Leben sein könnte, würden wir ihm mehr Aufmerksamkeit schenken.
Seitenlang beschreibt er das Fallen eines Regentropfens, damit uns klar wird, wie willkürlich wir entscheiden, wie viel Zeit wir welchen Dingen widmen. Nur wenn wir uns Zeit nehmen, haben wir was vom Leben. Nur wenn die Zeit in der Erinnerung oder in einem Kunstwerk konserviert wird, geht sie nicht ganz verloren.
Für diesen Text ist die Zeit nun abgelaufen. Es ist Zeit zu gehen. Und im nächsten Blog, habe ich mir vorgenommen, verwende ich nicht ein einziges Mal das Wort Zeit. Denn am wertvollsten ist die Zeit, wenn man sie nicht hat.