Klettert da jemand zu Concordia hoch? Den besten Platz und die beste Übersicht bei den Jazz Open hat die römische Göttin. Sie thront mitten auf dem Schlossplatz auf der 30 Meter hohen Jubiläumssäule. Concordia ist 172 Jahre alt, weshalb eine Schönheitskur nach so langer Zeit schon mal sein darf. Ein Gerüst ist um die Säule gebaut, die seit Wochen saniert wird. Am Abend, als die französische Sängerin Zaz drinnen auf dem Ehrenhof ein sensationelles Konzert gibt und draußen Hunderte von Zaungästen auf Picknickdecken kostenlos mithören, ist die Aufregung plötzlich groß. Denn man sieht, wie Personen das Gerüst von Concardia besteigen. Hat kurz davor nicht jemand Edward Snowden auf dem Schlossplatz erkannt? Sucht er nun Asyl bei der Göttin?
Die Polizei wird alarmiert. Doch nicht der Whistleblower lässt sich den musikalischen Wind einer Französin um die Ohren wehen. Restauratorin Ariane Brückel ist’s, die in Begleitung ohne Helm zur Concordia hoch geklettert ist, was einige Zaungäste erzürnt. Nutzt sie das Privileg der allerbesten Loge beim Musikfest? Es kommt zu einem heftigen Disput. Die alarmierte Polizei sieht jedoch keinen Grund zum Einschreiten. Gegen 19.30 Uhr sei sie für eine halbe Stunde oben gewesen, bestätigt mir Frau Brückel, „da habe ich noch gearbeitet“. Mit einem Kollegen habe sie eine Problemstelle bei der Restaurierung besichtigt. Natürlich habe sie auch in den Ehrenhof zur Bühne geschaut – zu dieser Zeit spielte aber die wunderbare Zaz noch gar nicht.
Drinnen auf dem Festivalgelände muss man Grün tragen, um höher als die anderen zu kommen. Mit dieser Farbe geht’s auf die obere Etage der Vip-Tribüne, wo Köstlichkeiten von Stäffele-Wirt Michael Wilhelmer gereicht werden. Sponsoren haben ihre Gäste mit grünen Bändeln ausgestattet. Man kann die Sonderbehandlung aber auch für 140 Euro im „Vip-Paket“ kaufen.
Nur mit diesen Extras kann eines der wichtigsten Musikfestivals Europas im 20. Jahr seines Bestehens überleben. Zu 30 Prozent muss der Jazz-Open-Etat (etwa 1,75 Millionen Euro) über private Sponsoren und öffentliche Gelder finanziert werden. Vorm Aufgang zum Vip-Reich sollte mal ein Regisseur mit der Kamera draufhalten. Es würde ein köstlicher Film entstehen. Wir sehen zum Beispiel eine feine Dame jenseits der 70. Sie trägt eine enge Lederjacke und extrem hohe High Heels, auf denen sie auf dem Pflaster der Schlossplatzes kaum vorwärts kommt. Glücklicherweise hat sie einen älteren, wohlhabend aussehenden Herrn an ihrer Seite, der ihr nur auf dem ersten Blick Halt gibt. Gleichzeitig ist er auf die Gehhilfe der Dame angewiesen – so stützen sich die beiden gegenseitig.
Gemeinsam geht’s zu „Jes Veux“ (ich will) von Zaz. Übersetzt heißt es im größten Hit der quirligen Französin mit der sensationellen Stimme: „Schmuck von Chanel, den will ich nicht! Schenkt mir eine Limousine, was soll ich damit? Ich will Liebe, Freude, gute Laune, euer Geld ist nicht das, was mich glücklich machen wird.“
Es geht schnell, bis Zaz alle glücklich macht, gute Laune und Freude spendet. An Schmuck von Chanel denkt wirklich keiner mehr. Draußen hinter der Absperrung wirken auch die Menschen beglückt, die für diesen Abend kein Geld ausgeben. Auf den mitgebrachten Picknickdecken kreisen die mitgebrachten Weinflaschen, die Finger greifen nach mitgebrachten Weintrauben und mitgebrachtem Käse. Drinnen im Festivalgelände wartet, wer Hunger auf einen neun Euro teuren Flammkuchen hat, 20 Minuten. Draußen wirkt die Picknickstimmung entspannend. Die Tribüne ist neun Meter hoch – zu hoch für einen Blick auf die Bühne. Doch man sieht, wie Lichter zucken, wird vom Live-Erlebnis mit reingezogen. Ist fast so wie vor einem Jahr bei „Oper im Park“. Da sahen viele von „Don Giovanni“ auf der Leinwand auch nichts, weil es so voll vor ihr war. Aber alle fühlten sich gut.
Und plötzlich scheint Edward Snowden überall. Vor dem Kunstmuseum breitet sich ein Flashmob aus. Angebliche Passanten setzen Masken des „Whistleblowers“ auf, um gegen die Spionagemethoden der US-Geheimdienste zu demonstrieren. Fotos davon werden später im Internet gepostet. Obamas Schnüffler sind also bestens informiert, was da in Stuttgart passiert. Wäre Snowden tatsächlich auf die Jubiläumssäule geklettert, der amerikanische Abschirmdienst hätte es vom Weltall garantiert gefilmt.