Das Werk enthält auf den ersten Blick viel Personal und wenig Handlung. Doch das Adressbuch von 1867 ist eine spannende und lehrreiche Lektüre.
Auf jeder Seite stehen Dutzende von Namen. Es sind die Namen von Toten. Wie soll der Mensch auch älter als 146 Jahre werden? Etwa 69 000 Namen sind in dem Stuttgarter Adressbuch von 1867 aufgeführt – so viele Bürger lebten in der „Königlichen Haupt- und Residenzstadt“, wie man damals sagte. Manfred Dayss, 84, über Jahrzehnte Chef eines schwäbischen Orient-Teppichhauses an der Calwer Straße, besitzt dieses historische Verzeichnis. Danke, dass Sie es mir ausgeliehen haben, lieber Herr Dayss! Ihr altes Buch hat mich gefesselt!
Die bräunlichen Seiten sind dünn und wirken zerbrechlich. Mit Spannung blättert man sich von A bis Z durch die Bürgerschaft einer vom König dominierten Stadt. Vom Oberzoll-Inspektor Abegg, A., wohnhaft in der Neckarstraße 59, bis zum Weingärtner Zimmermann, A., Schulstraße 3. Was für Schicksale verbergen sich hinter den Namen? Man liest Namen und Beruf laut – und schon entstehen Bilder im Kopf. Den unbekannten Ahnen haben wir viel zu verdanken, den Kutschern wie Brauereimeistern, den Kaufmännern wie Dichtern. Sie haben Stuttgart zu dem gemacht, was es heute ist.
1867 – das war das Jahr, als zum ersten Mal den Walzer „An der schönen blauen Donau“ dirigierte und Karl Marx den ersten Band vom „Kapital“ veröffentlichte. Der Wunsch nach einem neuen Leben war groß, was sich in dem Stuttgarter Adressbuch aus diesem Jahr widerspiegelt. In der Rubrik „Anzeigen und Empfehlungen“ bietet die General-Agentur Frank & Schäffer, Gerberstraße 9, Auswanderungen nach Nord- und Südamerika und Australien „mittels Dampfschiffen und Dreimastern erster Klasse“ an. Auf derselben Seite teilt Karl Lautenschlager mit, sein „Bureau für Colonisation des Staates West-Virginien“, Charlottenstraße 6, habe die Aufgabe, „der planlosen Auswanderung entgegenzuwirken“.
Da der Buchverkauf die hohen Herstellungskosten nicht deckte, war man auf die Idee gekommen, bezahlte Anzeigen aufzunehmen. Die Weinhandlung Eduard Laiblin § Cie. mit Geschäften an der Königstraße 11 und Hospitalstraße 35 bot Bordeaux-Weine an: „Zur Bequemlichkeit der verehrten Käufer wird der Transport in die Wohnung besorgt.“
Garantiert kein Geld für die herausgehobene Erwähnung hat die königliche Familie bezahlt. „Seine Majestät König Karl von Württemberg“ und „Ihre Majestät König Olga Nikolajewna, Großfürstin von Russland“ residierten im „königlichen neuen Schloss“. Im Kronprinzenpalais, Königstraße 30, lebte „Ihre Majestät die Königin-Mutter Pauline Therese Luise, vermählt mit dem verewigten König Wilhelm von Württemberg, Witwe seit 25. Juni 1864“. Weitere königliche Verwandte waren unter anderem im Palais an der Neckarstraße 25 zu Hause.
Im Verzeichnis der „Geschäfts- und Gewerbetreibenden“ gibt es (normale) Ärzte, aber auch Wundärzte und Armenärzte. Beim Straßenverzeichnis sehen wir, dass Hunderte von Bürgern in der Königstraße angemeldet waren – heute sind es nur noch sehr wenige in den Geschäftshäusern. Die Calwer Straße, in der 1921 die Eltern von Manfred Dayss ihren Teppichhandel eröffnet hatten, war eine feine Adresse für gute Geschäfte.
Längst sind viele Berufe von damals ausgestorben. Heute sind die Adressbücher digitalisiert, man bekommt sie als CD für den Computer. Die Menschen von 1867 hätten sich das nicht vorstellen können. Und wir haben keinen Schimmer, was in 146 Jahren ganz normal wird.
Menschen sind nur Teil einer Epoche. Auch wenn die Zukunft immer ungewiss ist, hat sie stets eine lange Vergangenheit. Wer nicht weiß, was früher war, tut sich schwer mit dem, was kommen mag.