16 Jahre   war er nicht mehr in Stuttgart gewesen, der Mann,  der  1995 mit kleinem  Budget  eine    Liebeserklärung in Schwarz-Weiß  gedreht hatte. „Stuttgart – mi amor“  war  eine poetische  Stummfilmreise durch eine magisch erscheinende   Stadt  – mit kontrastreichem Licht und  zauberhaften  Kulissen. Seine  Liebe zu Stuttgart  kam uns  wie Sehnsucht vor.

 

Selfie von Marcelo Lagos

Selfie von Marcelo Lagos

Vergeht die Liebe, wenn die Sehnsucht gestillt ist? Nein, nicht alles ist vergangen.  „Es gibt schwierige Lieben“, sagt Marcelo Lagos, 58, als wir mit ihm  nach  so langer Zeit  durch Stuttgarter  Straßen spazieren.

„Noch mehr teure Autos als früher“ fallen ihm auf, während wir  vom Künstlerhaus  zur Rosenau gehen – Stationen seiner Vergangenheit.     In den 1990ern gehörte der  chilenische  Filmemacher  zu der Künstlergruppe, die das Zapata erfunden    hat –    Stuttgarts  originellste Gastro-Idee  des alten Jahrtausends,   von der Documenta  als Kunst im Bau geadelt.

 Ende der 1970er hatte  Marcelo vor dem  Diktator Pinochet fliehen müssen, zwei Jahre saß er in Argentinien im Gefängnis. Bei den Dreharbeiten  in der  neuen Heimat  hatte er im Niemandsland hinterm Hauptbahnhof eine  leerstehende Fabrik entdeckt. Der  Rest ist Legende. Die  wohl größte Nachtwanderung in der Geschichte dieser  Stadt setzte ein  – zu einem „Ort von knisternder Erotik“, wie Rezzo Schlauch  das Zapata im Südmilch-Areal beschreibt.    Reise- und Güterzüge rauschten hier vorbei.   Als Marcelo    seinem Großvater Horacio davon erzählte, freute sich der Eisenbahner, der  das biblische Alter von 102 Jahren erreichte. „Bei den Geräuschen von Zügen kannst du  die Augen schließen“, sagte der Alte, „du hörst Worte,  die Räder auf die Gleise hämmern und  mit hypnotischer Kraft wiederholen.“

Das Zapata-Team von 1995

Das Zapata-Team von 1995

1995 baute Marcelo im Zapata die   schönsten Klos eines deutschen Clubs – und wusste,  dass der Abriss bevorstand.  „Das Ende kam schnell“, erinnert sich der 58-Jährige, „Spekulanten und Stuttgart 21 drängten uns aus der Gegend,  und der Weltgeist wanderte aus.“

Marcelo   zog  nach Berlin,  wo der Regisseur  Wim Wenders  sein Nachbar ist.   Für „Stuttgart – mi amor“ blieb  ihm kaum Zeit,  weil sein Leben immer neue Wendungen nahm.  „Es gibt keine Zufälle“, hat sein Großvater  Horacio gesagt.  

Ist es  also kein Zufall, dass der  frühere   Flüchtling, der mit nichts außer seinen Kleidern  nach Stuttgart kam,  heute in einem  Gutsherrenhaus  bei Hamburg lebt?  Sehen so moderne Märchen aus?   Marcelo  ist Mitglied  eines landwirtschaftlichen Kollektivs.    Seine Frau hat den Hof geerbt.  Im Zapata ging  er    um 5 Uhr  ins Bett – heute steht er   um 5 Uhr auf, um in dem Demeter-Hof  seine Arbeit zu tun.  Er pendelt zwischen Hamburg und Berlin, wo er weiterhin eine Wohnung hat – für die künstlerische Seite seines Lebens.

Ben Becker im Zapata 1995 Foto: Marcelo Lagos

Ben Becker im Zapata 1995 Foto: Marcelo Lagos

Bei unserem   Spaziergang  kommen die alten Bilder  zurück.  Marcelo Lagos gab mal ein  Buch mit Stuttgart-Fotos  heraus.    „Ich hatte keinen Platz mehr in der  Wohnung, die war voll mit  meinen Büchern, 2000 Stück“,  erzählt er. In Stuttgarts  Partnerstadt Cardiff sollen    seine Zapata-Fotos  ausgestellt werden  –   Dokumente eines rebellischen Geistes, der  sich  mit den Protesten gegen den Tiefbahnhof immer noch mehr  ausgeweitet hat.

Im Zapata hatten viele den  Caipirinha kennengelernt.  Heute gibt es Caipis bei jedem Stadtfest.  Stuttgart – mi amor. Wahre Liebe ist immer im Wandel. Es ist schön, älter zu werden, sagt Marcelo. Eines Tages kann er Geschichten voller Magie erzählen wie sein 102-jähriger Großvater.

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