Leben! Man sollte es in vollen Zügen tun, solange es noch geht! Eine wichtige Botschaft des Abends, der vielfältige Naturschauspiele vorführt. „Hat heute das Alten- und Pflegeheim Ausgang?“, fragte ein früherer Rathausbeamter. „Aber die gehen wenigstens noch raus“, erwiderte der Mann neben ihm, „und treffen viele Junge, die ihre Enkel oder Pfleger sein könnten.“ Das schräge Ambiente der früheren Kulmbacher Bierstuben wirkt anziehend auf Youngsters. Sie verleihen dem Café Weiß die höchste Auszeichnung und nennen es „Kult“. So treffen sich Greenhörner und Grufties in diesen verrauchten Räumen zum gemeinsamen Abstürzen. Beim Anblick der betagten Nachtgestalten spürt man die Vergänglichkeit. Ein wenig traurig macht dies. Doch die Vergänglichkeit ist hier gut drauf und trinkt ein Bier mit dir.
„Die haben wochenlang renoviert“, bemerkte Entertainer Michael Gaedt bei der Neueröffnung im vollgestopften Café Weiß hocherfreut, „und nichts hat sich verändert.“ So was gefällt ihm. Könne man dieses Konzept, fragte er mit Blick auf die alten Tapeten, die alten Bilder und die alten Tütenlampen, nicht auch auf den Stuttgarter Hauptbahnhof übertragen?
Nichts ist unmöglich, Herr Gaedt, das ist wohl war. Aber wärst du mehr in die Tiefe gegangen, hättest du erkannt, dass doch viel Neues passiert bei diesem Klassiker der Stuttgarter Nacht, also ganz unten halt. Treppe runter im 1965 eröffneten Café Weiß beim Hans-im-Glück-Brunnen – und eine neue Welt tut sich auf! Beim Pinkeln bin ich staunenden Männern begegnet, die den so liebevoll heruntergekommenen Schuppen in der Vergangenheit oft frequentiert haben – nun waren sie sprachlos.
Hier ist der Fotobeweis: Man könnte das neuerdings doppelt so große Herrenklo als Schmuckstück bezeichnen. Doch Besitzer Bernhard Weiß, der den Wunsch seines verstorbenen Vaters Heinz Weiß erfüllt, sich aus der Gastronomie rauszuhalten ( „Sonst schlag ich dir die Haxen ab“, sagte der Alte), ist auf was ganz anderes stolz. Nämlich darauf, dass er nach dem Ausstieg von Wirt Ranko doch „kein Schicki-Micki-Laden“ aus dem Café Weiß gemacht hat, wie er dies oft im Internet hatte lesen müssen. Es geht ganz so weiter, wie dies sein Vater und sein Großvater Alois Weiß als Hüter von Toleranz vorgemacht haben. „Alle Arten von Menschen sind hier willkommen“, sagte der SAP-Mitarbeiter in seiner sehr launigen Ansprache. Mein Kollege Joe Bauer formulierte es in seinem Vortrag so: „Hier lebten Schwule, Huren und was es sonst gibt in der friedlichsten Koexistenz seit der Erfindung des Unterleibs.“ Wer die Vergangenheit nicht kenne, sagte Joe, sollte sich erst gar keine Gedanken über die Zukunft machen.
Die Vergangenheit ist nie vorbei. Doch die Zeit wählt beim Vergehen nicht immer dasselbe Tempo. An der Person der Travestiekünstlerin Coco – sie sang „Ein Lude wird kommen“ – lässt sich dieses mögliche Missverhältnis studieren. „Der untere Teil bei ihr sieht wesentlich jünger aus als der obere“, bemerkte ein Gast. Die Beine sind schön, wollte er bestimmt sagen, und das Gesicht zeigt, dass die Mann-Dame gelebt hat.
Es kann noch ein Bier mehr werden. Das erhöht den Druck, nach unten zu den Klos zu gehen. Es ist fast so wie bei Coco: Der untere Teil des Café Weiß sieht wesentlich jünger aus als der obere – aber alles ist trotzdem gut gemacht.