Werden  die Stuttgarter, sagen wir mal, in 150 Jahren wissen, dass  ihre Urgroßväter und Ururgroßmütter     nicht nur den Tunnelblick hatten, wenn sie noch oben mit dem Zug in die Stadt  gefahren sind?  „Die Welt ist groß, besonders oben“, hatte Wilhelm Busch erkannt, ehe sich Abgründe auftaten. Oder wird im Jahr  2164 keiner mehr mit der Bahn anreisen,   weil jeder mit  Fluggeräten fröhlich durch die Lüfte düst? Wäre die Zukunft bekannt, müssten wir sie nicht mit Traumdrohnen  erkunden. Selbst mit dem Wissen, was kommt, ließen sich  Fehler  der Vergangenheit kaum    korrigieren. Was also werden  die Menschen in 150 Jahren denken, wenn sie auf einen Bildband  stoßen, den Mitarbeiter des städtischen Kulturamtes  in Kürze aus etwa  1000 eingesandten Fotos der Aktion #stgt2014 zusammenstellen?

Am 4. November 2014 wird der Grundstein für das Stadtmuseum im Wilhelmspalais gelegt. Nach alter Väter und Mütter Sitte   sollen  der Nachwelt Dokumente     gesichert werden. Schöne Grüße an die Zukunft! Nicht nur die  Stuttgarter  Zeitungen vom Tage werden versenkt,  sondern auch  viele Fotos von Stuttgartern, die man noch bis  Anfang Oktober im Netz hochladen kann.   Keine CD  mit den Bilddaten der Fotoaktion von 2014 kommt in den Grundstein, sondern ein Band mit ausgedruckten Fotos.

Werden so was  die spätere Generationen kennen? Fotos, die man in die Hand nehmen kann? Oder werden die Menschen  eine Art Brille tragen, die auf Knopfdruck  Bildergalerien   vor dem Auge  aufblättert? In 150 Jahren kann  so viel Unvorstellbares   passieren.

 

Das Stuttgarter Adress- und Geschäftsbuch von 1867

Das Stuttgarter Adress- und Geschäftsbuch von 1867

Das wird klar, wenn man ein Buch anschaut, das 150 Jahre alt ist. StN-Leser Manfred Dayss, der  über Jahrzehnte ein schwäbisches Orient-Teppichhaus an der Calwer Straße führte, hat mir  das Stuttgarter Adressbuch von 1867 geschickt  – es ist ein Schatz, den er aus einem Antiquariat fischte.  Auf den bräunlichen Seiten, die zerbrechlich wirken, breitet sich von A bis Z  die  Bürgerschaft einer  vom König dominierten Stadt aus –  vom Oberzoll-Inspektor Abegg, A.,  bis zum Weingärtner Zimmermann, A.. Im Verzeichnis der „Geschäfts- und Gewerbetreibenden“ gibt es (normale) Ärzte, aber auch Wundärzte und Armenärzte. Längst sind viele Berufe  ausgestorben. Fast endlos ist die Liste der Pferdekutscher.

 Was von dem, was heute normal ist, braucht man in 150 Jahren nicht mehr?

Die Stuttgart-Bilder von 2014, die bisher bei der Aktion des Stadtmuseums eingegangen sind, zeichnen das  bunte Bild einer Stadt, deren Hanglage einzigartig ist,  in der es aber  auch tiefe Abstürze im Streit gibt,  wie die  Motive zu  Stuttgart  21 zeigen. Was Markus Speidel,  der #stgt2014 fürs Stadtmuseum betreut, aufgefallen ist:   „Nur  wenige Ansichten  der bekannten Sehenswürdigkeiten sind darunter.“ Also wenig Fernsehturm, dafür umso mehr  Stadtbibliothek.

 Besonders schön: das  Autogrammfenster in der Bar des Bahnhofshotels Intercity. Ein ehemaliger Kellner hat die Autogramme in den 1950er gesammelt, als die Prominenz mit dem Zug anreiste.  Die Hotelleitung hat entschieden, dass dieses alte Fenster bleibt.

Ganz oft sehen wir Baustellen. Stuttgart des Jahres 2014 ist  eine Stadt hinter Zäunen, die nicht richtig zu erkennen ist. Wann ist die Stadt  wieder da, wann sind die Baustellen weg? Die Menschen werden’s wissen, wenn für sie Gegenwart ist, was für uns als Zukunft noch sehr vage erscheint. Die Welt ist groß, wenn sie bis dahin keiner versenkt.

 

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