Halbwelt traf hier auf Halbhöhe – und allen hat es Spaß gemacht, aus der Zeit zu fallen. 60 Jahre alt ist das Café Weiß beim Hans-im-Glück-Brunnen. Es gibt nur wenige Orte der Stadt, an denen  Gegenwart und Vergangenheit so eng  miteinander verschmelzen.  An 8. Mai startet die legendäre Nachtstation nach  sechswöchiger Renovierung – mit  Live-Musik und Lesung. Gut, viel geändert hat der Besitzer  Bernhard Weiß nicht. Er ließ die Toiletten und die Elektroleitungen erneuern, hielt am Ambiente der 1960er Jahre aber  fest.  „Ganz im Sinne“ seines Vaters Heinz Weiß und seines Großvaters Alois Weiß soll es weitergehen. Als Betriebsleiterin hat er Annemarie Imler engagiert, die langjährige Lebensgefährtin seines Vaters, die den Laden gemeinsam mit Harry Lisson  übernimmt. 

Die Türen werden am Mittwoch, 8. Mai, um 18 Uhr geöffnet.  Bernhard Weiß will um 20 Uhr das Wort ergreifen.  Gute Bekannte des Hauses werden auftreten:   die Band  Goldstone and Silver spielt, der Entertainer Michael Gaedt (er drehte hier für die „Soko Stuttgart“) moderiert, mein Kollege  Joe Bauer liest, und Travestiekünstlerin Coco singt. 

Schon immer war das  Café Weiß  der Gegenentwurf zum Zeitgeist, es war der Ort, an dem Mythen entstehen. Unvergipst erinnert ein   Einschussloch an längst verrauchte Rotlicht- und Ganoventage. Es scheint, als sei der Schmuddelcharme des alten Stuttgarts   in den schweren Vorhängen hängengeblieben

 Cafe WeißDie Zeit hat keine Macht über diese Räume, nur über die Menschen.  Der erste Chef Alois Weiß ist 1977 mit 67 gestorben, der zweite Chef Heinz Weiß (Foto oben) 2010 mit 74.

 „Dieses Café   hat  in Stuttgart eine so wichtige  Rolle gespielt“, sagt Gerhard Goller,  der über mehrere Jahrzehnte die Gaststättenbehörde im Rathaus geleitet hat, „dass man es zum Weltkulturerbe erklären müsste.“

 Und mit diesem  Erbe  soll Ende März  Schluss sein? Wirt Ranko, der nach dem Tod von   Heinz Weiß   die Geschäfte mit reichlich Wodka und Schokolade  weitergeführt hat, zieht sich  nach 40 Berufsjahren in  den Ruhestand zurück. Inhaber Bernhard Weiß bedankt sich ausdrücklich bei ihm. In der  Stadt jedoch war  die Aufregung groß: Verschwindet wieder  ein historischer Ort?   Kommt da ein Schicki-Micki-Laden rein? 

 Bernhard Weiß, der Sohn aus erster Ehe von Heinz Weiß, hält den Zusammenhalt der Familie  hoch. Im Sinne des Vaters war es, dass der heutige Besitzer, der beim Softwarehersteller SAP in Walldorf arbeitet, niemals selbst in der Gastronomie tätig wird. „Wenn du das machst“, soll der Vater gesagt haben, „hau’ ich dir die Haxen weg!“  Den Stress und die familienunfreundlichen Arbeitszeiten in der Gastronomie wollte er ihm nicht zumuten. Mit acht Jahren zog der Junior nach der  Scheidung seiner Eltern mit der Mutter  in die USA. In den Sommerferien kam er stets nach Stuttgart und lernte die  Welt seines Vaters und  Großvaters   kennen.

 Es war nicht unbedingt eine heile Welt, aber eine behagliche, in der  die Menschen ein großes Herz hatten und tolerant waren, in der die  Hure  neben dem  Theaterintendanten saß und der Anwalt beim  Zuhälter.

 Grweißschneidereioßvater Weiß war ein nobler Herr, meist vornehm  gekleidet und mit guten Manieren. Auf alten Fotos sieht er ein bisschen  aus wie ein Schauspieler aus Hollywood.   Sein Beruf: Schneidermeister. An der Oberen Bachstraße (die heute vom Schwabenzentrum überbaut ist) führte er eine Schneiderei, (Foto), aus der 1953 mit amtlicher Genehmigung ein   Schnellimbiss wurde. Die Schneiderei war nicht allein  berühmt für gute Stoffe und Schnitte, wie die  vom  Zentrum Weissenburg und dem Stadtarchiv erarbeitete  Ausstellung „Homosexuellenverfolgung in Stuttgart“ nachweist.  Es war die Zeit, als Toleranz chancenlos schien und viele Schwule mit Frauen verheiratet waren.   Das Geschäft  von Alois Weiß sei unter der Woche „eine ganz brave  Schneiderei“ gewesen, erinnern sich zwei Zeitzeugen, die Rentner Reiner P. und Johann W., „aber am Wochenende gab es dort Tanz für Homosexuelle“. Hinter der Schneiderei befanden sich Räume, in die sich die Männer unbeobachtet zurückziehen konnten. „Es war völlig  harmlos, nur Tanz und Musik.“  Kam die Polizei, konnten die Tänzer im Hinterzimmer gewarnt werden. Die Musik wurde sofort   abgestellt.

 1961 ging’s in die Kulmbacher Bierstuben an der Geißstraße, aus der das bis heute plüschig   konservierte  Café Weiß  geworden ist.  Dank Verhandlungsgeschick gab es eine der damals noch raren Sperrzeitverkürzungen. Man erzählt sich, dass Weiß wie auch die   findigen Chefs  der Nachtclubs der Vereinigten Hüttenwerke den damaligen Leiter der Ordnungsamtes  diskret auf dessen dunkle Vergangenheit als SS-Mann in besetzten Gebieten    hingewiesen haben, weshalb es mit dem Sperrzeitverkürzung problemlos  klappte.

 weiß5Im Café Weiß trafen sich weiterhin Schwule – doch auch Damen fanden sich nun ein. Der menschenverachtende Paragraf 175  verlangte Raffinesse. Chef Weiß holte Prosituierte ins Haus. So konnte man der Ordnungsmacht keinen Vorwand liefern, um einzuschreiten. Nach Streifung dieses Paragrafen wurde das Lokal immer mehr zum kulturellen Treff. Alle waren da. Der Buchhändler Wendelin Niedlich, sogar Willy Brandt sowie die italienischen WM-Helden von 1974. Die Prominenz ihres Freiers, des Torwarts Dino Zoff, soll eine Dame so sehr  die Sinne vernebelt haben, dass  sie vergaß, ihre Gage zu kassieren. Dann habe sie sich bei ihm beschwert – dieses Zitat erzählt man sich heute noch gern: „Dass Du da Verstand zwischa de Füeß hosch, han e jo g’wisst. Aber dass dees so wenig isch, hätt‘ e ned denkt.“

 Diese schönen Geschichten vom Café sollen nicht enden.  „Meine  Frau und ich sorgen dafür, später unsere Söhne“, versichert Bernhard Weiß. Das Familienerbe sei ihm sehr wichtig.  Stuttgart behält einen Ort der Mythen, ein lebendiges Museum.

Cafe Weiß

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